Der heutige Gastartikel hat mich wirklich bewegt, denn da hat sich jemand, der sein ganzes Leben lang unter Depressionen zu leiden hatte, freigestrampelt und die Depressionen im Griff.
Ich finde diese Geschichten sehr sehr wichtig, denn ich möchte gerne den Betroffenen und/oder akut Erkrankten Mut machen. Ich WEISS, wie schwer der Weg ist und wie hart und ich weiss auch, dass man manchmal nicht weiter gucken kann, als bis zur nächsten angebrochenen Stunde. Ich weiß das, weil ich genau an dem Punkt gewesen bin. Man kann sich nicht ausmalen, dass es jemals besser wird, man glaubt, dass das allerhöchstens Utopie ist.
Ja, manchmal ist das so.
Aber manchmal geht es einem auch so, wie dem Autor des heutigen Gastartikels. Die Wahrheit ist: Mitten in der akuten Erkrankung weiß man einfach nicht, wie es weitergeht. Danke für Deinen Text.
Wann es genau angefangen hat, kann ich gar nicht mal so genau sagen. Ich war eigentlich schon immer so, so fühlt es sich jedenfalls an.
Wenn ich zurückdenke, war ich eigentlich nie etwas besonderes. Das Abitur mit Ach und Krach geschafft, in der Schule alles andere als beliebt, immer eher der große Moppel. Ein bisschen verrückt. Ein Geek, ein Nerd. Und eigentlich war ich immer zufrieden damit.
Nach dem Abitur kam die Bundeswehr. Damals gab es noch die Wehrpflicht und ich hatte mich einfach nicht darum gekümmert, darüber überhaupt nachzudenken. Also würde ich zum Wehrdienst eingezogen. Aber schon zu der Zeit wurde mir immer wieder eine Frage gestellt, die mich ab da immer verfolgen sollte:
„Was hast du vor, in Zukunft zu machen. Was ist dein Plan?“
Und immer wieder gab ich die gleiche Antwort:
„Keine Ahnung, da hab ich mir noch keine Gedanken drüber gemacht.“
Die Antwort war natürlich unbefriedigend, besonders für meinen Vater. Er führt zu der Zeit das von seinem Vater – meinem Großvater – gegründete, kleine Maschinenbau-unternehmen aus einer der vielen Krisen. Für ihn ging es niemals ohne Plan. Für alles musste ein Plan her, ein Weg, den es strikt zu beschreiten galt. Und er hat niemals akzeptiert, dass ich eben keinen Plan hatte.
Dafür hatte die Bundeswehr einen Plan für mich. Trotz gesundheitlicher Einschränkungen habe ich mich unglaublich wohl gefühlt in dieser festen, rigiden Struktur. Der Dienstplan gab mir halt, es gab drei Mahlzeiten am Tag und ich musste nicht die lästige Frage beantworten, was ich denn mit meiner Zukunft vorhatte. Es zählte nur das hier und jetzt.
Nach 6 Monaten wurde ich planmäßig zum Obergefreiten befördert und bekam auf einmal Verantwortung. Verantwortung für einen kleinen Trupp Geschäftszimmer-Soldaten. Die Schreiberlinge der Kompanie. Zu dieser Zeit merkte ich, dass mir die Tätigkeiten und das Umfeld nicht nur Halt gaben, sondern ich auch gefordert und gefördert wurde. Unabhängig davon, was mein „Plan“ war. Darum ergriff ich eine Möglichkeit, mich für vier Jahre zu verpflichten.
Meinem Wunsch wurde entsprochen, denn obwohl ich immer noch gesundheitlich eingeschränkt war, wurde ich einige Wochen später zum Zeitsoldaten ernannt. Jetzt gab es nur ein Problem: ich musste das irgendwie meinem Vater beibringen. Der hatte nämlich ob des drohenden Dienstzeitendes nach 10 Monaten schon langsam wieder angefangen zu fragen, was mein verdammter Plan für die Zeit nach der Bundeswehr wäre.
Als ich meinen Eltern erzählte, dass ich mich für insgesamt vier Jahre verpflichtet habe, freute sich meine Mutter zwar mit mir und für mich – aber mein Vater hat eine Woche lang nicht mit mir gesprochen. Er meinte nur, das wäre verschwendete Zeit und ich sollte gefälligst so schnell wie möglich ein Studium beginnen.
Dumm nur, dass ich das damals gar nicht wollte.
Die vier Jahre in Uniform vergingen wie im Flug und füllen ein ganzes Buch (welches mittlerweile sogar im Handel erhältlich ist) und irgendwann kam wieder die Frage nach meinem Plan.
Ich hatte keinen.
Am Ende studierte ich tatsächlich – und zwar Produktionstechnik. Ich lebte zu der Zeit wieder bei meinen Eltern, denn eine eigene Wohnung hätte ich niemals finanzieren können. An der Uni fühlte ich mich zwar wohl, aber auch sehr verloren. Nach 13 Jahren Stundenplan in der Schule und vier Jahren Dienstplan bei der Bundeswehr war ich gar nicht in der Lage, mir meinen eigenen Vorlesungsplan zusammenzustellen. Dazu noch diverse Nebenjobs, vom Paketdienstfahrer über Arbeit auf dem Bau bis hin zur Stelle als freiberuflicher EDV-Dozent, die ich brauchte um das Auto bezahlen zu können. Irgendwann kam so etwas wie Prüfungsangst dazu, gegen die mir meine Mutter irgendwann Johanniskraut-Dragees gab.
Und dann kam ich tageweise gar nicht mehr aus dem Bett. Es ging einfach nicht.
Nach einigen Wochen kam ich so langsam wieder auf die Beine. Ich schmiss das Studium und schaffte es tatsächlich, schnell eine Ausbildungsstelle zu bekommen. Mit 26 ist man da eigentlich schon zu alt für, sagen viele Firmen. Ich preschte durch die Ausbildungszeit und hatte nach einem Jahr und neun Monaten das Abschlusszeugnis in der Hand – mit der Endnote „gut“.
Und dann? Wieder die Frage: „Was ist dein Plan? Was hast du jetzt vor?“
Ich fand im Glück relativ schnell eine Stelle, aber da wollte es nicht so richtig anlaufen. Eigentlich sollte ich in einer Reederei technischen Einkauf machen, und den Kollegen, der mich einarbeitete, nach einem halben Jahr quasi „beerben“.
Leider war dieser Kollege aber mit meiner Arbeitsweise (Zusammenarbeit mit den Schiffen und Inspektoren) nicht einverstanden und verlangte, dass ich seine Arbeitsweise (erst einmal alle Bestellungen in ablehnen und dann vielleicht an die Inspektoren zur Genehmigung weitergeben) übernehmen sollte.
Als dann im September meine damalige Freundin Schluss machte, war das zu viel für mich. Anfang Dezember war die Situation völlig unerträglich und ich machte im Büro reinen Tisch und es wurde entschieden, mich zum Jahreswechsel gehen zu lassen. Also wieder zum Arbeitsamt.
Das Weihnachtsfest war die Hölle. Mein Vater gab mir natürlich die Schuld an der Kündigung („Du musst dich halt an die Firma anpassen und keine eigenen Methoden einbringen!“) und auch ansonsten war eher dicke Luft.
Da wunderte es mich doch sehr, dass mein Vater Mitte Januar fragte, ob ich ihm nicht im Büro helfen könnte, er würde gerade zertifiziert und bräuchte Hilfe dabei, das Managementhandbuch zu schreiben. Ich war arbeitslos und konnte das Geld gut gebrauchen und konnte und wollte meinen Vater trotz allem nicht hängen lassen, also sagte ich zu.
Als Sohn des Chefs hatte ich keinen guten Start, ich müsste jede einzelne Kompetenz unter Beweis stellen. Aber ich lernte wie blöd, büffelte technische und physikalische Grundlagen, verkabelte drei Monate lang Anlagen, fuhr mit zum Kundendienst und machte wirklich alles. Und irgendwann würde ich tatsächlich akzeptiert.
Ich baute meinen Freundeskreis aus, fing im Schützenverein im Stadtteil an und hätte beinahe so etwas, wie ein ganz normales Leben.
Aber immer wieder gab es Schwierigkeiten: Ein Chef, der der Meinung ist, „nicht gemeckert ist Lob genug“, für den Feedback ein totales Fremdwort ist und der gerne mal „das haben wir schon immer so gemacht“ als Argument gegen Verbesserungen vorbringt, von regelmäßigen Besprechungen, „Soft Skills“ und anderen „neumodischen“ Sachen zu überzeugen, ist gar nicht mal so einfach, aber irgendwie klappte es. Ich brachte Problem-Azubis durch die Lehre, schlug mich mit arroganten Berufsschullehrern herum und schaffte es, den Firmennamen mehr und mehr mit zur Marke zu gestalten. Und trotzdem ging es mir immer schlechter.
Mein Leben außerhalb der Arbeit fand kaum noch statt. Ich kam nach Hause, fiel ins Bett, stand morgens wieder auf und ging zur Arbeit. Zwischendurch gab es Treffen mit Freunden, Training, Turniere, ich fing an zu tanzen. Aber niemand wusste, wie es in mir drinnen aussieht.
Den Briefkasten leerte ich erst, wenn er voll war. Post sichtete ich nur äußerlich und am Ende war ich nur noch zum Schlafen zu Hause. Kein Wunder, denn aufgeräumt hatte ich zuletzt vor Monaten.
In dieser Zeit fing ich an, zu bloggen und zu twittern, um mir ein Ventil zu schaffen. Ich bekam schnell relativ viele Leser, aber leider waren auch Kollegen dabei. Die Kollegen, die lieber faul herumsitzen statt zu arbeiten. Die Kollegen, die mich anschwärzten. Mein Vater verlangte, dass ich das Blog sofort zu löschen hatte – und zum ersten Mal lehnte ich mich gegen ihn auf. Ich forderte ihn auf, gerichtlich gegen das Blog vorzugehen – ein Unterfangen, das ihm mehr geschadet als genutzt hätte und das vor allem technisch relativ schwierig gewesen wäre, da es um ein in den USA gehostetes Blog ging. Nach einigen zähen Verhandlungen ließ ich mich am Ende darauf ein, keine neuen Beiträge über Arbeit oder Kollegen – auch nicht so anonymisiert wie es bisher war – zu schreiben. Ich ging zwar erhobenen Hauptes aber mit einer Niederlage aus seinem Büro.
Dann lief das Geschäft irgendwann wieder schlechter. Die ersten Kollegen wurden entlassen, die Gehälter kamen immer erst am 2. oder 3. des Monats, manchmal kam auch erst am 6. ein Abschlag. Die Post war mir egal, am Ende des Monats gab es halt Nudeln oder Reis. Manchmal auch nur Tütenkram, weil ich keine Lust zum Kochen hatte. Die Post von der Bank, wenn wieder einmal eine Lastschrift mangels Deckung nicht eingelöst werden konnte, ignorierte ich. Genau wie den abgestellten Strom. Wenn jemand fragte, wich ich aus oder log den Leuten stumpf ins Gesicht. Irgendwann war es egal, ich hatte ja sowieso niemals Besuch. Nur an einem Tag, da kam Besuch, den ich nicht einfach stehen lassen konnte:
Am 23. Dezember 2013 stand dann die Gerichtsvollzieherin vor der Tür, nach zwei Monatsmieten im Rückstand wollte die Wohnungsbaugesellschaft die Räumungsklage durchsetzen.
Als die Gerichtsvollzieherin die vollgemülte, unaufgeräumte Wohnung sah, schickte sie die Möbelpacker allerdings weg und nahm mich Beiseite. Sie sorgte dafür, dass ich nach einem Zwischenhalt in Polizeigewahrsam zur Sozialpsychiatrischen Ambulanz gebracht wurde. Am Ende hatte mir diese Frau damit das Leben gerettet, denn wäre die Räumung durchgeführt worden, hätte ich meinem Leben höchstwahrscheinlich ein Ende gemacht.
Es folgten drei Monate Krankschreibung, ein Monat Wiedereingliederung und zwei Jahre ambulante Therapie, während ich vorübergehend wieder bei meinen Eltern in eine Einliegerwohnung zog.
Ich lernte, mehr auf mich zu achten. Mehr, auf meinen Körper zu hören. Einen Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit zu schaffen.
Die Therapie war hart, schmerzhaft, zeigte mir einen ungeschönten Spiegel, aber zeigte mir auch, was ich erreicht hatte, was ich konnte und dass ich das Recht hatte, mich selber ausreichend zu finden. Auch ohne, dass es mir jemand sagt. Ich lernte, dass die Depression zu mir gehört, ich sie möglicherweise nicht mehr loswerde – und ich lernte, das zu akzeptieren.
Ich lernte eine Frau kennen, ging eine neue Beziehung ein. 2016 fing ich eine neue Arbeitsstelle an, 2017 zog ich aus dem Stadtteil, in dem ich geboren und aufgewachsen bin und die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe in eine neue Stadt. Nicht weit weg, aber weit genug, um meine Ruhe zu haben.
Ich arbeite immer noch das auf, was ich ich damals mit der ungeöffneten Post liegen gelassen habe. Ich habe es erst jetzt geschafft, meine alte Wohnung, die 2013 zwangsgeräumt werden wollte – was durch meinen Vater am Ende abgewendet wurde – zu kündigen. Ich fange jetzt langsam an, auf eigenen Beinen zu stehen und mich aus dem Schatten meines Vaters zu lösen. Mittlerweile will ich es ihm nicht mehr immer nur Recht machen, seine Anerkennung haben – ich habe gelernt, dass ich es mir selber Recht machen muss.
Ich habe in meinem neuen Beruf Fuß gefasst, ich habe mir ein neues Leben aufgebaut. Ich bin nicht mehr im Schützenverein, sondern in einer Hilfsorganisation und mache regelmäßig Sanitätsdienste bei Veranstaltungen. Ich genieße meine Freizeit.
Jemand nannte seine Depression den „schwarzen Hund“, der mal kleiner ist und mal größer, aber der immer mal wieder da sein wird. Und ich finde, das trifft es ganz gut. Es wird immer Tage geben, da schleicht ein Gedanke um mich herum. Ein kleiner schwarzer Hund, der sich zu meinen Füßen auf den Teppich legt. Und es gibt Tage, da sitzt ein riesiger schwarzer Hund auf dem Sofa und grinst mir ins Gesicht.
Ich hatte Glück. Glück, dass die Zwangsräumung abgewendet wurde. Glück, dass die Gerichtsvollzieherin erkannt hat, dass es mir nicht gut geht. Glück, dass mein Hausarzt mich sofort krankgeschrieben hat. Glück, dass ich unglaublich schnell einen Therapieplatz hatte – und dass die Krankenkasse bei den Verlängerungen mitgespielt hat. Glück, dass ich eine neue Arbeitsstelle gefunden habe. Und wahnsinniges Glück, dass ich eine tolle Frau an meiner Seite habe, die mir bei all dem hilft.