Der heutige Gastartikel kommt von Svenja. Er ist erschütternd und erhellend zugleich. Er erschüttert, weil sie ihren Zustand so greif- und nachvollziehbar beschreibt, es ist erschütternd, weil sie so jung ist (OT: Mit 18 hatte ich meine zweite depressive Episode, die schlimmste).
Er ist erhellend, weil Svenja das alles so nüchtern und objektiv beschreibt, wie sich eine Depression entwickeln kann, welche Umstände und Einflüsse dabei ein Rolle spielen können, dass man es einfach sehr gut nachfühlen kann.
Ich wünsche Dir, liebe Svenja, dass Du Deinen, einen guten Weg mit Deinem Zustand findest, mit Hilfe Deiner Therapeutin.
Mein Zustand und ich
Ich bin 18 Jahre alt und leide an einem Zustand. Das klingt nicht nach einem Krankheitsbild, ich weiß. Ist es aber. Ich benutze das Wort Zustand synonym für die Diagnose, die nicht gestellt wurde. Ich lehne Diagnosen ab, werfe nicht mit medizinischen Fachbegriffen um mich. Solange es nicht ausgesprochen wird, kann ich mir wenigstens noch einreden, mein Zustand sei etwas anderes als das, was es ist. Auch wenn ich genau weiß, wie die medizinische Diagnose lauten würde: Ich sage es nicht laut. Denn ich weiß, diese Diagnose könnte mein Leben für die nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, bestimmen. Und es ist doch allein die Hoffnung, die Vorstellung von einer besseren Zukunft, die mich jeden Tag überstehen lässt, mich vor dem vollkommenen Zusammenbruch bewahrt.
Die Vorgeschichte
Ich war schon immer ein merkwürdiges Kind. Meine Eltern legten viel Wert darauf, mich zu fördern. Wenn ich sie bitte, mir von meiner frühen Kindheit zu erzählen, bekomme ich meistens zu hören, wie anders (im positiven Sinne) ich doch war als die anderen Kinder. Dass ich es geliebt habe, Musik zu hören und schon mit drei Jahren in einem klassischen Konzert vollkommen ruhig und leise dasaß, in Musik versunken. Dass ich mit vier Jahren Tonleitern und Buchstaben gleichzeitig lernte und ab meinem fünften Lebensjahr ständig die Nase in einem Buch hatte. Dass ich schon als kleines Kind schwierige Dinge schnell verstanden habe und mir auch noch merken konnte. Irgendwie hat sich durch diese Erzählungen damals die Vorstellung in meinen Kopf eingebrannt: Wenn du anders, besser bist als die anderen, dann bist du gut.
Die äußeren Umstände trugen auch nicht gerade dazu bei, dass sich an dieser Vorstellung etwas änderte. Als ich fünf Jahre alt war, kam eine Lehrerin aus der Grundschule in den Kindergarten, um uns auf die Schule im nächsten Jahr vorzubereiten. Sie entschied kurzerhand, dass ich eigentlich schon sofort in die erste Klasse kommen konnte. So wurde ich mit fünf Jahren, mitten im tiefsten Winter, eingeschult. Das Schuljahr hatte längst begonnen, die Klasse sich zu einer Gemeinschaft zusammengeformt. Ich war die Neue, die misstrauisch beäugt wurde, weil sie mitten im Schuljahr neu in die Klasse kam, mit Abstand die Jüngste war und trotz der Tatsache, dass sie das erste Halbjahr verpasst hatte, regelmäßig fehlerfreie Diktate ablieferte. Die Reaktion eines Klassenkameraden, als ich dafür ein Lob von der Lehrerin bekam: „Ich krieg die Krise!“
Die Reaktion meines Vaters auf das erste Diktat, in dem mir ein Fehler unterlaufen war: „Endlich mal ein Fehler!“ Als hätte er nur darauf gewartet, dass ich – in meinen Augen – versage, empfand ich es damals.
Ich hatte damals einige Freunde, aber auch Probleme mit Mitschülern, die in die Richtung „Mobbing“ gingen. Schulpausen verbrachte ich meist allein, meinen Gedanken nachhängend. Komischerweise fand ich all das damals irgendwie überhaupt nicht schlimm. Wozu sollte ich mich sozialisieren, ich hatte doch alles, was ich brauchte.
Selbst zu meinen Freunden war das Verhältnis nicht besonders eng. Als ich eine Freundin zufällig in der Flötenstunde traf, tat ich so, als hätte ich sie noch nie gesehen.
Aufgrund von Schlafstörungen verwies mich mein Kinderarzt an eine Kinder- und Jugendtherapeutin, als ich acht Jahre alt war. Meistens spielte ich dort mit ihren Barbiepuppen (die mir meine Mutter nie erlaubt hatte) und ließ meiner Fantasie freien Lauf. Ich erfand Menschen, Länder, ganze sagenumwobte Welten, und ich hatte das Gefühl, es ginge mir besser.
Auf der weiterführenden Schule wurde es jedoch schwieriger. Da meine Eltern und ich gemeinsam beschlossen, dass ich auf eine Schule mit Musikprofil gehen sollte (ich spielte damals drei Instrumente), fuhr mich meine Mutter fortan auf dem Weg zur Arbeit in die Stadt. Die räumliche Entfernung meines Wohnortes zu dem meiner Mitschüler machte es wieder einmal schwierig, Kontakte zu knüpfen. Ich begann mich über meine Leistungen zu definieren. Heute denke ich, dass mein Verhalten eigentlich ein Schrei nach Liebe und Zuneigung war. Da ich davon nicht genug bekam, holte ich mir Anerkennung, so viel ich bekommen konnte.
Das soll nicht heißen, dass meine Eltern nicht lieb zu mir gewesen wären, denn das waren sie auf jeden Fall. Aber ich hatte häufig das Gefühl, dass ich die Liebe im Austausch für gutes Benehmen bekäme. Als ich ein Kind war, hielt mir meine Mutter manchmal vor, dass sie (im Gegensatz zu mir) ihren Eltern nie widersprochen hätte. Das übersetzte mein kindliches Gehirn in die Botschaft, ich müsse brav sein und dürfe keine andere Meinung haben als meine Eltern. Ich empfand es immer als Liebesentzug, wenn ich nach einem Streit mit meinen Eltern in mein Kinderzimmer gesperrt oder in späteren Jahren meist mit Verachtung gestraft wurde. Fast nie setzte ich mich durch, weil mir Harmonie wichtiger war als meine Meinung.
Insbesondere meine Mutter hatte in meiner Kindheit auch häufig das Bedürfnis, mich beschützen zu müssen, leider tat sie das meist auf die falsche Art und Weise. Damit zerstörte sie auch eine enge Freundschaft. Irgendwann hörte ich auf, ihr die Dinge zu erzählen, die mir wirklich am Herzen lagen, aus Angst, sie könnte sie zerstören.
Auch im Gymnasium brachte mir mein „Anderssein“ nicht nur positive Reaktionen ein. Einige Mitschüler fanden mich seltsam, weil ich ihnen körperlich und in bestimmten Sportarten unterlegen war, dafür in anderen Dingen jedoch überlegen. Ich tat damals alles, was uncool war: Ich mochte klassische Musik, schrieb gute Noten, ging selten aus und gab wenig von mir preis. Ich sprach keine Jugendsprache, sondern formulierte klare, überdachte Sätze. Ja, ich war anders. Irgendwie wurde mir das auch bewusst. Im Unterricht machte ich mich zumeist unsichtbar, weshalb sich Lehrer über die Abweichungen zwischen meinen schriftlichen und mündlichen Leistungen häufig wunderten.
Mit den Jahren wurde ich etwas offener, lachte mehr. Aber sobald ich Ablehnung spürte, setzte ich meine Maske auf. Ich lachte über die Bemerkungen, die mich in Wahrheit tief ins Herz trafen. Ich spielte allen ein glückliches, ausgeglichenes Mädchen vor, versuchte so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Doch in Wahrheit war ich einsam.
Die vermutete Wende
Einige Monate vor meinem Abitur fühlte ich mich einem Zusammenbruch nahe. Die Erwartungen, die sowohl mein Umfeld als auch ich selbst an mich hatten, lasteten auf meinen Schultern. Ich bekam Versagensängste, heulte wegen 12 Punkten in einer Musikarbeit. Zu diesem Zeitpunkt holte ich mir Hilfe bei einer Online-Beratungsstelle. Wieder glaubte ich einen Schritt weiter zu sein. Ich erkannte die Mauer, die ich um mich herum errichtet hatte, und begann sie abzubauen. Damals gewann ich wahre Freunde. Die Monate nach meinem Abitur waren unbeschwert, fröhlich. Zwar verzieh ich mir meine Fehler nicht, doch ich akzeptierte sie als einen Teil von mir. Ich unternahm eine Sprachreise nach Schweden und verschenkte mein Herz an dieses Land. Ich glaubte, es geschafft zu haben, am Ziel angelangt zu sein. Doch dies sollte sich als Irrtum herausstellen.
Der Rückfall
Die beschwingte Stimmung hielt nicht lange an. Die Ehe meiner Eltern begann den Bach runterzugehen. In Wahrheit hatten die Eheprobleme schon lange unser aller Leben beherrscht, doch ich habe den Ernst der Lage lange nicht erkannt. Ich stand zwischen den Stühlen und hatte häufig das Gefühl, die Einzige zu sein, die für unsere Familie kämpft. Die familiären Probleme hielt ich geheim. Für mich war Familie etwas Heiliges, ich hätte nie, nicht einmal im engsten Freundeskreis, schlecht über meine Eltern gesprochen. Zudem versuchte ich, das Bild von der perfekten Familie, die wir vorgaben zu sein, aufrechtzuerhalten. Ich hatte das Gefühl, die Probleme anderen gegenüber einzugestehen käme einem Versagen gleich. Zur selben Zeit zogen meine Freunde weg, um in anderen Städten zu studieren oder Praktika zu machen. Ich verlor die einzigen Menschen, auf die ich mich hätte stützen können. Der Kontakt ist bis heute regelmäßig, doch die räumliche Entfernung macht mir häufig zu schaffen.
Auch ich begann ein Studium. Wieder einmal hatte ich Probleme mit meinen Mitmenschen. Wieder einmal war ich anders. Wieder einmal verschloss ich mich, zog mich zurück. Ich brauchte diese Schutzmaßnahme, um selbst zu funktionieren.
Irgendwann erkannte ich, dass ich Hilfe brauchte. Ich weihte ein paar gute Freundinnen ein und kontaktierte nach langen Telefonaten und vielen WhatsApp-Nachrichten wieder die Therapeutin, die ich noch aus meiner Kindheit kannte. Mit ihr begann ich meine Kindheit zu reflektieren, damals noch fest im Glauben, ich hätte nur momentan eine schwierige Phase zu durchleben.
Der Zustand
Es hat Monate gedauert, bis ich anfing zu akzeptieren, dass meine Schwermut, meine Verzweiflung, manchmal die Unfähigkeit zu fühlen keiner schwierigen Zeit geschuldet sind, die irgendwann vorbeigeht. Ich, oder besser gesagt meine Therapeutin, erkannte meine Symptome. Schlaflos bis in die tiefe Nacht. Müde, antriebslos, nicht fähig mich zu konzentrieren. Ich habe nicht das Gefühl zu Höchstleistungen fähig zu sein, und dafür hasse ich mich oft. Sensibel war ich schon immer und trotz meiner sozialen Schwierigkeiten waren mir andere Menschen auch stets mehr wert als ich selbst. Doch inzwischen ist das längst ausgeartet. An manchen Tagen ist mein Selbsthass überwältigend, mein Leben unerträglich. Es ist mein Pflichtgefühl, das mich dazu zwingt, wenigstens nach außen hin zu funktionieren. Nur wenige Menschen wissen, wie es an dunklen Tagen in mir aussieht. Und die wenigsten von ihnen verstehen, dass, auch wenn ich zwischendurch mal lache, ich weit davon entfernt bin, glücklich zu sein. Ich musste mir schon oft den Vorwurf anhören, ich sei doch am Vortag noch so gut gelaunt gewesen. Es gibt bessere Phasen, aber selbst die sind weit davon entfernt, gut zu sein. Jedenfalls wenn man „gut“ so definiert, wie es wohl die meisten Menschen tun.
Ich habe lang damit gehadert, mich so zu fühlen. Habe mir vorgeworfen, dass ich dazu keinen Grund hätte. Mir eingeredet, dass ich über die Trennung meiner Eltern langsam mal hinwegkommen müsste. Meine Therapeutin machte mich behutsam darauf aufmerksam, dass die Trennung vielleicht der Auslöser für den Zustand war, aber in Wahrheit viel mehr dahintersteckt. Ich habe ihr verboten, dafür ein anderes Wort als Zustand zu benutzen. Ich habe mich verabscheut für diese Kraflosigkeit, diese Antriebslosigkeit. Ich bin ein rationaler Mensch und gerade deshalb habe ich mir vorgehalten, ich müsste dankbar sein, dass meine Familie und ich gesund sind, wir nicht hungern müssen, ein Dach über dem Kopf und genug Geld haben, dass ich studieren kann. Diese Gedanken haben alles noch viel schlimmer gemacht. Ich war schon immer nachdenklich, doch nun komme ich aus dem Grübeln nicht mehr raus. Lange habe ich mir selbst Durchhalteparolen zugerufen. Ich war in besseren Momenten überzeugt, das ginge vorbei. Doch in schlechteren Zeiten bin ich, getrieben von mir selbst, erst recht zusammengebrochen – natürlich ohne so laut um Hilfe zu rufen, dass mich jemand hätte hören können. Irgendwann habe ich mir eingestanden, dass dieser Zustand tatsächlich ein Zustand ist. Und nicht nur eine vorübergehende Störung. Meine Therapeutin und ich konnten uns einigen, dass ich mir den Gedanken an Psychopharmaka zumindest durch den Kopf gehen lasse, auch wenn ich mich dagegen sträube. Aus demselben Grund wie ich den Zustand als Zustand bezeichne.
Ich weiß, dass dieser Zustand mein ganzes Leben beeinflusst. Dass er schuld an meinen nahezu permanenten Kopfschmerzen ist. Dass er sich negativ auf mein Verhalten auswirkt, die Kommunikation mit anderen Menschen noch mehr erschwert. Ich weiß, dass meine Gedanken und Gefühle von diesem Zustand geprägt sind. Und ich weiß nicht, wie es weitergehen wird. Es ist ein beängstigender Gedanke, dass dieser Zustand mein Leben schon von Jugendjahren an mitbestimmt und womöglich noch viele Jahre andauern wird. Gleichzeitig klammere ich mich an dem einen Zustand fest, dass die Zukunft besser wird. An erträglichen Tagen denke ich, dass ich noch lange genug Zeit habe, meinem Leben eine Chance zu geben. Dass ich nach dem Studium unabhängiger sein werde, und selbstständiger. Dass ich mir einen Kreis aus Herzmenschen aufgebaut haben werde.
Ja, ich habe Zweifel an dieser Vision. An schlechten Tagen ist es unvorstellbar, dass ich mit dem Zustand jemals beruflich erfolgreich werde oder einen Mann finde, der mich liebt und den Zustand erträgt. Ich wünsche mir, später mal eigene Kinder in die Welt zu setzen und denke gleichzeitig, dass es egoistisch wäre, ihnen den Zustand zuzumuten. Der Zustand hängt wie eine dunkle Wolke über meiner Gegenwart und auch über meiner Zukunft.
Vielleicht denken einige Leser dieses Textes, dass in der Jugend schon jedes kleine Problem ein großes Drama ist. Dass ich übertreibe, über den Zustand später lachen werde. Dem ist nicht so. Ich neige seit jeher zum Bagatellisieren, schwäche Dinge, die mich betreffen, meist ab. Wie gesagt, nur sehr wenige Menschen wissen, WIE dunkel es manchmal in mir aussieht. Und ich habe nicht vor, das in Zukunft zu ändern. Ich belaste meine Mitmenschen nicht mit Dingen, die mich betreffen. Das mag dumm sein, aber es ist MEIN Zustand und somit in erster Linie MEIN Problem. Ich lerne gerade, mit ihm zu leben. Es ist möglich, an den besseren Tagen, und die schlechteren muss ich irgendwie überstehen. Das tue ich auch, denn ich habe mir und besagten wenigen Menschen versprochen, dieses Leben nicht aufzugeben.
Ich bin 18 Jahre alt und leide an einem Zustand. Dafür möchte ich weder Mitleid noch Verachtung. Merkt euch das!
Von Svenja (@SvennieC_ee24, planetminerva.blogspot.de)
Liebe Svenja,
ich wünsche dir alles Gute auf deinem schweren Weg den Zustand für dich
zu akzeptieren und mit ihm umzugehen zu lernen.
Liebe Grüße und Danke das du diesen Bericht
geschrieben hast
Aurelia