Der heutige Gastartikel ist von Alexander, einem dreifachen Vater, der uns heute ausführlich und sehr persönlich von seiner Depressions-Geschichte erzählt. Ich bin für jeden wöchentlichen Artikel sehr dankbar, aber auch immer, wenn Männer für diese Reihe schreiben. Denn oftmals fällt gerade Männern das drüber reden oder schreiben schwer(er), so dass ich es eben sehr wichtig finde, einen solchen Text von einem Mann zu lesen. Zumal Männer sich noch viel öfter dem Vorwurf von Schwäche ausgesetzt sehen und mit vielen Vorurteilen belastet sind, wenn sie zu einer psychischen Erkrankung stehen.
Ich schweife ab. Lieber Alex, ich danke Dir für Deinen heutigen Text und Deine Offenheit.
Meine kleine Geschichte der Depression
Ich berichte an dieser Stelle von meinen persönlichen Erfahrungen. Dies ist keine Hilfestellung bei akuten depressiven Episoden! Es ist meine eigene Geschichte, die aufgrund der unterschiedlichen Individuen auf keinen anderen passt. Aber vielleicht erkennt der Eine oder Andere etwas wieder;-)
Ich erlaube mir, als erstes etwas auszuholen. Möglichst nicht zu weit, aber es muss sein. 2010 war ein Jahr der Höhen und Tiefen. Meine Mutter starb (viel zu früh) an Krebs, unsere Zwillinge kamen kurz danach auf die Welt. Der Tod meiner Mutter als wichtige Bezugsperson in meinem Leben war ein gravierender Einschnitt – davon merkte ich aber erst mal gar nichts, da ja die Kleinen kamen und sich alles um dieses Thema drehte.
Somit war der Trauerprozess verdrängt. Wir lebten unsere Leben wie die Mehrzahl aller Bewohner dieser Welt. Zwei Jahre später kam Kind Nummer drei auf die Welt. Unzufrieden mit mir, meiner Situation auf der Arbeit und der ganzen Welt machte ich folgenden Entschluss: Ich gehe zwei Jahre in Elternzeit mit drei kleinen Kindern (2 & 2 Jahre, Neugeborenes).
Ich hatte mich wohl schwer verschätzt: Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr. Es gibt keinen Kurs, Führerschein oder sonst etwas, das mich darauf vorbereitet hätte. Als Pragmatiker, der Emotionen verdrängt und nach Perfektion strebt, kam ich mit Lichtgeschwindigkeit an meine Grenzen. Todmüde konnte ich nicht mehr schlafen, war kaputt und aufgedreht zugleich, völlig neben mir. Irgendwann bin ich dann zum Hausarzt, der mir zunächst Johanniskraut verschrieb – half eine Weile, aber nicht lange. Dann kamen stärkere Mittelchen, die ich aber schnell wieder absetzte: tagsüber war ich beeinträchtigt davon, mein Streben nach Perfektion war dadurch verhindert, ich konnte mit der ganzen Situation (leider) gar nichts anfangen. Also: „business as usual“.
Mein Chef kam dann nach einiger Zeit wieder auf mich zu: die Situation bei der Arbeit sei schwierig, Personal zu finden wäre auch nicht leicht, ich müsse unbedingt nach 2 Jahren wieder zurückkommen und keine Verlängerung beantragen (Anmerkung: ja, ich bin Beamter – in der freien Wirtschaft wäre schon eine Pause von 2 Jahren ein RIESIGES Problem – ist mir klar).
Und plötzlich (wirklich, von einem Tag auf den anderen) konnte ich nicht mehr funktionieren: bei der Arbeit war ich nicht in der Lage, mich zu konzentrieren, die Gedanken waren zähflüssig und klebten aneinander, nicht sortierbar. Zu Hause war ich nicht „zu Hause“, sondern ein Fremder in der eigenen Familie. Die Kinder nervten (sorry, bin nur ehrlich), mit meiner Frau verstand ich mich überhaupt nicht mehr. Ich schleppte mich noch zwei Wochen so weiter durchs Leben, dann ging ich zum Hausarzt und hatte relatives Glück: er erkannte die Depression, nahm mich aus dem Verkehr raus. Mein Pech: er glaubte an das Wunder der modernen Medizin, verschrieb mir Antidepressiva und war überzeugt, es wäre alles in zwei weiteren Wochen wieder gut.
Dies war aber keinesfalls zutreffend. Ich konnte nur zu Hause sitzen, meine Gedanken rasten, an Schlaf war nicht mehr zu denken, ich fror die ganze Zeit und schwitze mich dauernd völlig durch, weil ich mich viel zu warm anzog. Meine Frau verstand nichts mehr – ich auch nicht. Essen ging nicht, Menschen um mich auch nicht. Nach guten vier Wochen dann die Erlösung: meine Frau war am Ende der Nerven, nahm mich an die Hand und ging in die ambulante Notfallaufnahme der Uniklinik. Dort war die Situation schnell eingeordnet, die Station allerdings überfüllt. Mein Glück: mit Beihilfe und privater Zusatzversicherung bin ich ähnlich gestellt wie ein Privatpatient. Mehrere Telefonate durch den diensthabenden Arzt führten mich schließlich in eine private Klinik in Bad Säckingen.
Mitte Januar 2015 landete ich in der Psychiatrie. Ich wollte nicht hin, war aber nicht in der Lage dies selber zu bestimmen. Und ich fühlte: meine Frau will das Beste für mich, also mache ich das Mal. Mein Leben schien mir sinnlos, ich hatte Angst vor Krebs (war nur ein Leistenbruch, aber in der Situation ging alles völlig im Kopf durcheinander), und ich hatte eine Angst: beim Auto fahren war mir ab und zu der Gedanke gekommen – „jetzt einfach gegen den LKW, dann habe ich endlich Ruhe“. Das ging aber nicht: drei Kinder, ich selber mit der Erfahrung, eine Pubertät ohne Vater gelebt zu haben (war nicht schön für mich). Also: Klinik – schlimmer kann es nicht mehr kommen. Und das stimmte auch!
Die Klinik in Bad Säckingen nahm mich auf, und ich tauchte erst mal dort unter. Die Situation überforderte mich zunächst: „du bist in der Klinik, du bist psychisch krank!“. Kontakt du anderen Patienten war in den ersten zwei Wochen gar nicht möglich – ich war seelisch… keine Ahnung. Unbeschreiblich.
Die Klinik selber basierte auf (für mich) vielen „esoterischen“ Behandlungen: Aufmerksamkeit, Yoga, Traumreisen, „in den Körper fühlen“…. Damit hatte ich überhaupt nichts bisher zu tun und fragte mich, was das wohl soll. Aber egal: wieder spürte ich, wie Therapeuten und Ärzte es gut mit mir meinten. Und ich wollte ja nicht in der seelischen Hölle stecken bleiben.
Ganze drei Monate blieb ich dort – und es war (im nach hinein) eine wunderbare Zeit, in der ich viel Neues entdeckte: Yoga ist etwas wunderbares, ich bin nicht alleine mit dieser Krankheit, das Essen kann sogar gut schmecken… zu viel, um alles hier nieder zu schreiben.
Danke an dieser Stelle an die Klinik Bad Säckingen – ihr habt mir unglaublich viel beigebracht.
Nach der Klinik kam der Start von 0 auf 100. Zwar wurde ich zur Wiedereingliederung überredet, aber ob beruflich oder privat: ich kam schnell in mein „altes“, früheres Leben zurück. Im nach hinein: keine meiner besten Ideen.
Kaum ein Jahr später wieder das gleiche Spiel im Kopf, dunkle Gedanken, Antriebslosigkeit etc. Die Medikamente hatte ich selber abgesetzt, war vielleicht auch nicht so gut. Trotzdem: diesmal hatte das „Monster“ einen Namen, wir waren einander bereits bekannt. Ich suchte mir daher wieder eine Klinik – selber, aus eigenem Antrieb. Ich merkte: du musste noch mehr darüber lernen und erfahren, irgend ein Baustein fehlt.
Diesmal ging ich in eine Klinik in Nordrach – keine Privatklinik, das hatte ich mir bewusst so rausgesucht. Dort hatte ich einen wunderbaren Therapeuten, der tief und weit zurückging – riesiges Dankeschön an dieser Stelle! Es war das schlimmste (subjektiv betrachtet, von den Gefühlen her) an Therapie bisher, und trotzdem hatte es noch gefehlt. Ich musste meine persönlichen Schmerzen und Erfahrungen ausgraben, und bis heute ist das mein Fundament für das Verständnis meiner Krankheit. 95% habe ich in der ersten Klinik gelernt, aber die restlichen 5% hatten gefehlt wie ein Fundament bei einem Haus – ohne steht das Ganze nicht.
Die ganze Zeit wurde ich darüber hinaus in den Phasen zu Hause von einem sehr erfahrenen Therapeuten ambulant begleitet. Gerade in der Phase nach der zweiten Klinik hat mir das enorm geholfen. Ich habe wahnsinnig viel verstanden, konstruktive Vorschläge erhalten und wurde immer wieder zur Selbstreflektion angehalten – so sehr ich am Anfang der ambulanten Therapie nicht verstand, worauf der Therapeut eigentlich hinaus wollte, so sehr bin ich ihm heute dankbar für diese Phase in meinem Leben.
Aber eins sollte jedem Betroffenen klar sein: eine ambulante Behandlung wird nie so schnell und tief gehen können wie die Behandlung in einer Klinik. Der Therapeut entlässt euch ambulant in den Alltag, er muss dabei darauf achten euch nicht völlig umzustülpen. In der Klinik kann anders gearbeitet werden: es ist immer jemand um euch, der euch auffangen kann, wenn es mal zu viel war.
Heute komme ich zurecht. Dank meiner Ärzte habe ich gelernt: ich bin krank, ich muss erst mal gar nichts. Eine Behinderung und der Ausweis über einen GdB von 50% wurden beantragt und genehmigt – für mich hilfreich, meine Depression als Beeinträchtigung anzunehmen und nicht gleich ins alte Leben zurück kehren zu wollen.
Das alte Leben gibt es auch nicht mehr – alles ist neu, obwohl rein äußerlich nichts verändert erscheint. Ein Beispiel: meine Frau und ich bzw. unsere Beziehung war eigentlich zu Ende. Trotz Trennungswunsch von beiden Seiten gingen wir zu einer Paartherapie, um wenigstens wegen der Kinder noch miteinander klar zu kommen.
Heute ist meine Frau mir näher als je zuvor. Wir haben es gemeinsam durchgestanden, haben viel übereinander gelernt. Meine Frau geht inzwischen auch zum Therapeuten, um selber Probleme bei sich anzugehen. Wir sind frisch verliebt (ich bestimmt, aber auch meine Frau sagt dies zu mir).
Mein Leben besteht jetzt aus guten und weniger guten Tagen. Wenn es mal nicht klappt, macht es nichts. Es darf so sein. Meistens klappt es dann schneller wieder gut. Ohne Zwang von mir selber geht es viel besser. Ich darf alles, ich muss nichts. Und ich lobe mich dafür, wenn etwas klappt. Auch wenn ich mehr erreichen wollte an dem Tag: macht nichts. Dann halt morgen, oder noch später. Ich achte auf die Dinge, die klappen, die ich erreiche. Auch kleine Erfolge sind gut, selbst keine Erfolge dürfen sein. Alles andere hilft mir gar nicht, führt nur zu der negativen Gedankenspirale, die es täglich zu durchbrechen gilt. Immer wieder versuche ich, meinem alten Leistungsanspruch gerecht zu werden – und bereue es sofort. Das „Alte“ ist Geschichte, auch wenn es schwer fällt. Ich übe noch.
Und ich liebe inzwischen Zitate von Siddhartha Gautama, besser bekannt als Buddha. Dieser erkannte z.B. eine Ursache für Depression:
„Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht aus unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken formen wir die Welt.“
Fazit:
Wenn es euch emotional schlecht geht und dieser Zustand länger dauert – holt euch Hilfe!
Die Depression ist eine „emotionale Dysfunktion“ – gefällt mir besser als „psychische Krankheit“.
Gefährlich, da viele keinen anderen Weg mehr für sich sehen als von uns zu gehen. Dabei kann ich berichten (und viele andere auch): ein Leben mit Depression ist möglich. Diese gehört zwar zu uns, wir müssen uns zu einem kleinen Teil daran gewöhnen. Die Depression kann aber so winzig klein werden, dass sie uns im Alltag nur unwesentlich stört.
Schlusswort: Danke an meine Schwester, die mir inzwischen (seit kurzem) von einem anderen Ort außerhalb dieser Welt beisteht – dieser Text ist dir gewidmet. Gerade in der Phase des zweiten Klinikaufenthaltes warst du mir eine riesige Stütze – ich hoffe, ich konnte dir in deiner letzten Lebensphase etwas davon zurückgeben!
Danke!