In meinem heutigen Gastartikel geht es um so viel mehr als nur die Depressionen einer Mutter, beschrieben aus der Sicht ihrer Tochter, Marika. Es geht um Menschen, die wie Parasiten auf Kosten anderer leben und er zeigt, wie sehr man den Halt verlieren kann.
Das Lesen dieser Geschichte hat mich zutiefst erschüttert und ich habe Angst, dass meine Worte floskelhaft klingen, aber sie sind es nicht: Schön, dass Du und Deine Mama noch da sind und dass ihr Euch angenähert habt. Es tut mir sehr leid, dass es Deiner Mutter so schlecht geht, ich hoffe, dass ihr Euch weiterhin bestehen könnt.
Marika hat mir noch berichtet, dass ihr es unglaublich gut tat, das Ganze mal niederzuschreiben und sie und ihre Mama haben lange über den Text und die damalige Zeit gesprochen, die Mutter hat den Text freigegeben. Es war für sie beide ein kleiner nachträglicher Abschluss. nachträglicher Abschluss.
Marikas Blog findet ihr hier.
„Mama ist müde“
Die Depressionsgeschichte meiner Mutter fing bereits in ihrer Kindheit an. Sie war das mittlere von drei Kindern und wurde leider auch so behandelt. Ihre große Schwester war immer das leuchtende, schlanke, bildschöne Vorbild. Ihr kleiner Bruder der süße kleine Schlingel dem man doch gerne etwas verzieh. Sie fühlte sich damals schon immer als nicht ausreichend, nicht gut genug. Dieses Gefühl zog sich durch ihr ganzes Leben.
Als sie 18 Jahre alt war, heiratete sie und bekam mit 20 Jahren ihren ältesten Sohn. Sie arbeitete, zog drei Kinder groß, holte ihr Abitur nach, studierte. Trotzdem hatte sie nie das Gefühl, an ihre große Schwester heranzukommen oder eine große Leistung vollbracht zu haben. Nach 18 Jahren unglücklicher Ehe war sie in einer starken Depression gefangen. Sie begab sich das erste Mal in Therapie und lernte dort im Jahre 88 meinen Vater kennen. Kurz zuvor hatte sie sich von ihrem Ehemann getrennt und fühlte sich von den Flirtversuchen meines Vaters geschmeichelt. Sie reiste ab, doch R. war bereits so in meine Mutter vernarrt, dass er ihren Wohnort ausfindig machte und ihr nachreiste. Die beiden verliebten sich und heirateten nach der Scheidung vom Vater meiner Geschwister im April 1990, als meine Mutter gerade mit mir schwanger war.
Ich war ein absolutes Wunschkind von beiden und ihr Glück schien perfekt zu sein. Allerdings hatte es auch gute Gründe warum mein Vater damals in Therapie war. Seine Erkrankung machte ein gemeinsames Leben unmöglich und die beiden ließen sich nach vier Jahren und hartem Kampf um die Zustimmung meines Vaters scheiden. Meine Mutter tat ihr Bestes, um mich alleine großzuziehen. Sie arbeitete Vollzeit als Kindergärtnerin und gab ihr Bestes, um mir über den Umstand, dass mein Vater nicht da war, hinwegzuhelfen.
Im Jahre 1996, damals war ich gerade 5, lernte sie dann W. kennen. Sie verliebten sich und am Anfang schien es auch eine glückliche Beziehung zu sein. Es lief sogar so gut, dass sie zusammen im Jahre 2000 nach Franken zogen – und mich mitnahmen. W. arbeitete bereits mehrere Monate in Franken, bevor wir hinunter zogen. Zwei Jahre vorher lernten wir im Urlaub zwei Familien dort kennen und trafen uns nach dem Umzug auch noch weiterhin mit ihnen.
Es schien eine Weile alles wunderbar zu laufen, bis meine Mutter im Sommer 2000 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit mir in eine andere Wohnung zog. Ich liebte W. damals sehr, er war für mich mein Papa und ich weinte bittere Tränen über die Trennung. Sie hat mir damals nichts von dem Alkoholproblem meines Stiefvaters erzählt und ich war auch noch zu klein, um die Situation zu verstehen. Er trank so oft und so viel, dass ihm sein Führerschein abgenommen wurde. Er machte massive Schulden und musste deshalb sogar seine Wohnung, in der wir am Anfang noch zu dritt wohnten, räumen. Meine Mutter nahm drei Jobs an und ich war die meiste Zeit alleine, doch sie wollte, dass es mir an nichts fehlte. Ich war mittlerweile 10 Jahre alt und bekam mit, wenn sie abends heimlich weinte, weil sie so erschöpft war, weil sie mich auch meiner gewohnten Umgebung gerissen hatte und sie nun ganz alleine mit mir da stand.
Dass sie gute Freunde hatte, half ihr über diese schwere Zeit hinweg. W. fing von heute auf Morgen einen Entzug an und beendete ihn auch erfolgreich. Noch während seines Aufenthalts in der Klinik machte er meiner Mutter einen Heiratsantrag und so gaben sie sich im Frühjahr 2002 das Jawort. Ich war glücklich, ich hatte endlich eine „richtige“ Familie. Während für mich alles wunderbar schien, verlor mein Stiefvater seinen Job. Meine Mutter stand ihm selbstverständlich bei. Sie sparte sogar Geld damit er seinen Führerschein nachmachen kann. Leider „verschwand“ das Ersparte auf mysteriöse Art und Weise. Ihr ging es nach und nach immer schlechter. So schlecht, dass sie bald nicht mehr arbeiten konnte.
Als ich 13 wurde und auf den M-Zweig der Hauptschule wechselte, waren beide Hartz-4 Empfänger und das Geld sehr knapp. Die Depressionen kehrten zurück und meine Mutter musste für 6 Wochen zur stationären Behandlung. Ich war in dieser Zeit alleine mit W. und alles andere als glücklich. So sehr ich ihn am Anfang liebte, so wenig mochte ich ihn zu meiner Teenagerzeit. Er wurde mir gegenüber immer kälter, alles musste so laufen, wie er es wollte. Er verwaltete das Geld, kaufte das ein, was er wollte und ich hatte kein Mitbestimmungsrecht. Es gab nie Obst, weil er das nicht aß. Trinken kaufte er auch nie, er trank ja Kaffee und das reichte. Ich durfte nie am Computer meiner Mutter im Schlafzimmer spielen, denn er wollte genau dort fernsehen, obwohl es einen funktionierenden Fernseher im Wohnzimmer gab. Jeden Samstag musste ich mit zu seinem Aushilfsjob in einen Garten gehen, um ihm bei der Arbeit zu helfen. Sonntags musste ich immer um spätestens 8 Uhr aufstehen, um mit ihm zu frühstücken, obwohl er unter der Woche jeden Tag die Gelegenheit dazu hatte, aber lieber liegen blieb.
Egal was ich tat, es war alles verkehrt. Ich putzte falsch, angeblich kam ich immer zu spät, wenn ich einen Essenswunsch hatte, wurde mir unterstellt ich sei verwöhnt und zu den Besuchen bei meiner Mutter konnte er mich auch nicht mitnehmen, weil das Zugticket am Wochenende angeblich mehr gekostet hätte. Ich fühlte mich einsam und missverstanden, aber meine Mutter konnte mir nicht helfen. Wenn ich sie doch besuchen konnte, hatten wir uns nicht viel zu sagen. Sie meckerte über mein Aussehen und meine Noten. Wenn ich sie dann wütend ignorierte, sah man ihr den Schmerz deutlich an. Und sie wirkte so müde… Auch als sie wieder nach Hause kam, wurde es nicht besser. Sie war machtlos gegen das ständige Gemecker meines Stiefvaters. Er ließ an niemandem mehr ein gutes Haar und egal was wir taten, es war am Ende immer verkehrt.
Im Sommer 2004 hörte ich von einer Möglichkeit für Jugendliche, in Italien Urlaub zu machen. Ich sparte dafür mein gesamtes, recht spärliches Taschengeld. Ein Jahr lang freute ich mich darauf und hatte am Ende die 250 Euro zusammen. Ich brachte auch immer die Pfandflaschen weg und hob Geld, welches mir meine Geschwister zusteckten auf, nur um einmal Urlaub machen zu können. Doch im Sommer 2005 war von dem Geld nichts mehr da. Ich hatte alles in eine Geldkassette im Kleiderschrank meiner Mutter gelegt, aber das war alles verschwunden. Meine Mutter hatte damals schon große Probleme damit, unter Leute zu gehen. W. erzählte ihr immer wieder, wie furchtbar sie wäre und dass sie eh niemand mögen würde. Meine Mutter konnte das Geld also unmöglich ausgegeben haben. Es blieb nur W. und ich sprach ihn darauf an. Er gab es sogar offen zu und meinte, er brauchte das Geld. Wofür konnte bzw. wollte er mir nicht sagen. Denn trotz der ungeplanten Finanzspritze war der Kühlschrank fast immer leer. Wir hatten selten Getränke im Haus und Obst gab es quasi nie. Auch Gemüse wurde auf Tomaten beschränkt.
Mama ging es immer schlechter und der Kontakt zu allen ihren Freunden brach ab. Das Verhältnis zu meinen Geschwistern verschlechterte sich, niemand wollte mehr mit uns Kontakt haben und wir wussten nicht, wieso. Mama erzählte ihnen, wie es uns ging, was W. alles tat, dass sie Hilfe bräuchte, aber niemand glaubte uns. Wir standen also da mit leeren Mägen und fühlten uns furchtbar. Ich wurde in der Schule aufs Übelste gemobbt und meine Noten verschlechterten sich immer weiter. Nur mit viel Glück bekam ich einen Platz für ein soziales Jahr und danach im dortigen Krankenhaus eine Ausbildung. Mittlerweile verbrachte meine Mutter immer häufiger und immer längere Aufenthalte in der Klinik.
Ich dagegen war nur noch alleine mit einem Stiefvater, der nur schimpfte und mir jeden Tag erklärte, dass das Geld nicht für Essen reichen würde. Zu dieser Zeit kauften mir meine Geschwister Kleidung und füllten bei Besuchen den Kühlschrank, damit es mir gut ging. Sie schoben die Schuld meiner Mutter zu, sie würde nicht richtig wirtschaften. So oft es ging fuhr ich ihn den Ferien zu meiner Schwester, mittlerweile so eingeschüchtert und verstört vom Mobbing in der Schule und den täglichen Schimpftiraden meines Stiefvaters, dass ich mich kaum noch wagte, etwas zu sagen.
Zu Hause sah ich meine Mutter kaum noch. Sie vergrub sich in ihrem Zimmer, war nur noch müde und erschöpft und ich weinte mich jeden Tag in den Schlaf.
Als ich 15 war, dann ein großer Schlag ins Gesicht: Unter Tränen schlug mir meine Mutter vor, zu einer Pflegefamilie zu ziehen. Und beinahe wäre es auch so gekommen, aber ich konnte nicht weg, ich liebte meine Mama zu sehr und wollte sie nicht verlieren. Meiner Mutter ging es so schlecht, dass sie es nicht mal mehr zu Elternabenden schaffte und auch zu keinem meiner Tanzauftritte bzw zu meiner Abschlussfeier. W. kam, nur um gelangweilt in der Ecke zu stehen oder über mein Abschlusszeugnis zu schimpfen. Ich fühlte mich wie ein nichts, ungeliebt und wie eine Verliererin. Meine Mutter sah mein Zeugnis nicht mal mehr an, sie war zu müde…
Nach der Schule absolvierte ich ein soziales Jahr und begann mit der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin. Mein Stiefvater arbeitete in der Zeit auch dort als 1€ -Jobber. Er schob die Betten umher und verteilte Medikamente. Meinen gesamten Verdienst im sozialen Jahr musste ich abgegeben, ich durfte nichts für mich behalten. Im Januar 2009 war ich gerade im ersten halben Jahr in der Ausbildung, als W. plötzlich von heute auf morgen auszog. Wir erfuhren davon, als ein großer Brief für ihn ankam. Meine Mutter dachte, es wäre der Arbeitsvertrag für seinen neuen Job und öffnete ihn, doch darin fand sie den Mietvertrag für die neue Wohnung meines Stiefvaters. Die Situation zu Hause eskalierte, es flogen Teller durch die Gegend und meine Mutter rastete so sehr aus, dass sie fast mit einem Messer auf ihn losgegangen wäre. Sie war fix und fertig und bemerkte dann erst den großen Betrug.
Meine Mutter saß ohne Geld in der großen Wohnung. Ich wohnte im Schwesternwohnheim, doch zog nach seinem Auszug zurück zu ihr. Sie brach zusammen und ich hatte von meinem Lohn auch nichts mehr, da ich ja so gut wie alles in die Hände meines Stiefvaters geflossen waren. Wir standen also mit leeren Kühlschrank da und ich schaltete das Gesundheitsamt ein. Sie schickten eine Frau, die Nothilfe leistete und uns ein wenig Geld gab, so dass wir uns etwas zu essen kaufen konnten. Ich fiel binnen weniger Wochen so drastisch in meinen Noten herab, dass ich meinen Lehrplatz verlor. Ich ertrug es nicht, W. jeden Tag zu sehen. Ich war so verletzt und konnte nicht verstehen, wieso er uns so hängen ließ. Meiner Mutter wurde eine Betreuerin an die Seite gestellt, die sich um sie kümmerte.
Nach und nach kam heraus, was W. in den letzten Jahren wirklich hinter unserem Rücken anstellte. Es tauchten Kontoauszüge auf und es flatterten Rechnungen ins Haus, alle auf den Namen meiner Mutter. W. hatte uns um insgesamt 8.000 Euro gebracht. Meine Mutter brauchte Jahre, um die Schulden abzuzahlen und konnte nicht beweisen, dass es nicht ihre Schuld war. Aufgrund der Mangelernährung der letzten Jahre hatte sie einige Schäden erlitten. Nach der Trennung traute sich meine Mama überhaupt nicht mehr unter Leute. Ich nahm Kontakt zu ihren alten Freunden auf und erfuhr, dass W. sie überall schlecht gemacht hatte. Er hatte grausame Lügen verbreitet, weshalb man den Kontakt abbrach. Auch bei meinen Geschwistern tat er dies. Da ich mich lange nichts zu sagen traute, glaubte man ihm und meine Mutter stand überall als die verschwenderische, hysterische und gemeingefährliche Furie dar, die sie nie war. Er hatte sie ganz systematisch fertig gemacht und das über Jahre hinweg. Während sie unter Panikattacken und Depressionen litt, war ich vollkommen verängstigt und verschüchtert. Wir litten beide an starker Mangelernährung und unsere Beziehung war furchtbar angespannt.
Ich zog 2010 mit meinem damaligen Freund zusammen und meine Mutter und ich waren sehr zerstritten. Erst als ich 2013 unerwartet schwanger wurde, wuchsen wir wieder richtig zusammen. Bis heute hat sie Angst vor Menschen, traut niemanden und verfällt immer wieder in den Wahn, dass ihr jemand, bzw. ich etwas Schlechtes tun will. Diese Zeit nagt noch heute an uns, hat uns fast auseinander getrieben, aber am Ende noch viel Näher zusammengeführt.
Im Nachhinein betrachtet wäre es sinnvoller gewesen, wenn Verwandte und Freunde W. nicht alles anstandslos geglaubt hätten und auch mich mal zu gefragt hätten, wie die Situation zu Hause ist. Meiner Mutter ging es nach den Therapien immer viel besser, doch kaum dass sie zu Hause war, schlitterte sie wieder in ein tiefes Loch und ich war wieder alleine. Ich glaube, man hätte uns beiden viel früher helfen können, wenn man uns nur ernst genommen hätte. Niemand wollte sehen wie mein Stiefvater wirklich ist, man schimpfte immer nur über meine Mutter. Sie müsse nur mal den Arsch hochbekommen, dürfe sich nicht immer zurückziehen, mal rausgehen an die frische Luft, das täte ihr gut. Dass sie Angst hat, dass sie andere Menschen nicht mehr ertrug, dass wollte niemand sehen oder verstehen. Was er tat ist mit nichts zu rechtfertigen und für mich unverzeihbar. Ich sehe ihr noch heute, nach so langer Zeit ohne ihn, jeden Tag an welchen Schmerz er in ihr ausgelöst hat und das obwohl er für mich lange wie ein Vater war.
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