Der Gastartikel in dieser Woche ist aus der Sicht einer Angehörigen geschrieben, die Mutter von Lady Bug hatte Depressionen und hier wird beim Lesen schnell kar, dass Depressionen auch für das Umfeld von Betroffenen nicht immer einfach sind. Zumal die Angehörigen oft hilflos sind, weil sie nicht helfen können oder dürfen. Diese Ohnmacht ist manchmal schwer auszuhalten, kann doch eine Behandlung und Therapie letzten Endes nur vom Betroffenen ausgehen.
Auch hier ist es am Ende schön zu lesen, dass die Therapie geholfen hat.
Alles Liebe für Euch und die Mama. <3
Das Telefon
Das Schlimmste an der Depression meiner Mutter war das Telefon. Immer wenn es klingelte, zuckte ich zusammen. Denn wenn es meine Mutter war (und sie war es sehr, sehr oft), dann musste ich mit ihr stundenlange Gespräche führen, die sich nur im Kreis drehten. Die nie zu einem Ergebnis führten oder auch nur dazu, dass sie sich besser fühlte. Die aber auch nie zu einem guten Abschluss kamen, denn wenn wir ein Thema, über das sie sich Sorgen machte, endlich durchdiskutiert hatten, kam sofort das nächste auf. Und das übernächste. Und dann wieder das erste, bei dem wir sämtliche Argumente wieder von vorne diskutierten.
Natürlich war mir klar, dass es eigentlich nicht um diese Themen ging, die mir in der Außensicht allesamt völlig absurd erschienen. Sie hatte plötzlich schlaflose Nächte, weil ich drei Jahre vorher aus der Kirche ausgetreten war, und machte sich Sorgen, ob mich das beruflich einschränken würde. Sie grub uralte Dinge aus der Vergangenheit aus oder redete sich aktuelle Probleme ein, die einfach hanebüchen waren. Nicht selten überschritt sie damit auch Grenzen und stellte Lebensentscheidungen von mir und meinem Bruder infrage, die ihr plötzlich das Leben unerträglich machten. Wie verletztend das war, merkte sie gar nicht. Ich wusste, dass es nicht um diese Dinge ging, sondern dass ein Problem dahinterlag. Der Begriff „Depression“ stand damals aber noch nicht wirklich im Raum, und meine Mutter selbst war nicht in der Lage, über die Probleme hinauszudenken, die ihr plötzlich die ganze Welt ausfüllten. Und wenn mein Vater nicht verfügbar war oder sie die Diskussion mit ihm ausgereizt hatte (natürlich ohne Ergebnis, denn das war nie möglich), dann rief sie mich oder meinen Bruder an. Manchmal mehrmals am Tag, und häufig auch mitten in der Nacht.
Ich versuchte immer, Verständnis aufzubringen, nett zu sein, sie in allen Gedanken und Ideen ernst zu nehmen. Ich glaube, das ist mir auch gut gelungen. Aber von Mal zu Mal wurde es kräftezehrender, denn ich konnte genau voraussehen, wohin die Gespräche führen würden: nirgendwohin. Nebenher bespaßte ich nicht selten meine Tochter, die damals gerade zwei Jahre alt war und möglichst wenig von der bedrückenden Stimmung mitbekommen sollte. Ein Eiertanz, der mir mehr und mehr an die Substanz ging.
Manchmal stellte ich nachts das Telefon aus, damit ich selbst mal eine Nacht schlafen konnte, ohne mit dem Klingeln zu rechnen. Dann raubte mir die Vorstellung den Schlaf, dass meine Mutter jetzt vielleicht verzweifelt zu Hause saß und niemanden erreichte. Wir hatten Glück: Meine Mutter traf zufällig auf eine wunderbare Ärztin, die das Problem sofort erkannte und ihr sehr schnell einen Platz in einer Klinik organisierte. Als meine Mutter tatsächlich dort hinging, war ich einfach nur erleichtert. Einerseits natürlich, weil ich auf Besserung hoffte und weil sie endlich die professionelle Hilfe von Menschen hatte, die wussten, wie man mit ihr und ihrer Krankeheit umgehen musste. Andererseits aber vor allem, weil sie mich aus der Klinik heraus nicht mehr ständig anrufen konnte.
Meine Mutter blieb drei Monate in der Klinik und krempelte danach ihr ganzes Leben um. Sie kündigte den Job, der viel zu ihrer Krankheit beigetragen hatte, sorgte für mehr Freiraum und hörte auf, es immer allen recht machen zu wollen. Zusätzlich nahm sie die Medikamente, die ihr sehr gut taten. Es dauerte noch eine ganze Weile, aber es kehrte tatsächlich wieder Ruhe ein. Sie wurde wieder die fröhliche, zugewandte Frau, als die ich sie kannte. Das Ganze ist jetzt bald zehn Jahre her und die Depression ist nie zurückgekommen. Selbst nach schlimmen Schicksalsschlägen hat sie es immer geschafft, rechtzeitig gegenzusteuern, bevor die Krankheit sie wieder in die Fänge bekam.
Aber dieses kurze Zusammenzucken, wenn das Telefon klingelt und ihre Nummer angezeigt wird, das ist mir geblieben. Erst wenn sie „Hallo“ sagt und ich höre, dass es ihr gut geht, atme ich durch.