Der heutige Gastartikel meiner anonymen Autorin zeigt, dass auch die Menschen, die sich beruflich mit Depressionen bzw. psychischen Erkrankungen befassen, nicht zwangläufig selbst davor gefeit sind. Auch hier können seelische Belastungen sehr akut werden und dann braucht auch der Profi selbst Hilfe.
Ich bin Dir für diesen Artikel wirklich sehr dankbar, weil er so viele verschiedene Seiten beleuchtet und zeigt, welche Herausforderungen zu meistern sein können. Vielen Dank, dass Du diesen wertvollen Text geschrieben hast.
Erschöpfung
Wie sich völlige Erschöpfung anfühlt wusste ich. Dieses Gefühl war mein ständiger Begleiter seitdem ich zwei Kinder im Abstand von 17 Monaten geboren hatte, seitdem mein Mann mich wegen einer Liebe am Arbeitsplatz verließ als die Kinder 1 ½ und 3 Jahre alt waren, seitdem ich wieder angefangen hatte zu arbeiten, seitdem ich die Arbeitszeit wieder gesteigert hatte und seitdem ich alleine den Umzug von unserem Haus in eine Mietwohnung gemeistert hatte.
Aber auf einmal war es doch anders. Der Umzug war vorbei. Die Kinder mittlerweile 3 und 4 Jahre alt und gut in ihrem neuen Kindergarten integriert. Der Winter war nicht mehr so krankheitslastig wie die Vorjahre gewesen und meine Arbeit war anstrengend, aber sie bereitete mit eigentlich Freude.
Das Licht ging aus
Und plötzlich ging dennoch das Licht aus. Da war keine Traurigkeit, da war eine unendliche Leere. Ich konnte nicht mehr Lachen, aber was mich viel mehr lähmte, war es nicht mehr Weinen zu können. Da war nicht mehr nur Erschöpfung, da war eine bleierne Gelähmtheit. Jeder Schritt war ein Kampf. Ich hatte als Jugendliche einmal eine schwere Lungenentzündung überstanden. Als ich danach wieder aufstehen konnte fühlten sich die Bewegungen ähnlich schwer an. Aber im Unterschied zu damals wurde es nicht besser. Ich sah mich innerhalb von 6 Wochen verfallen. Ich erledigte meinen Alltag, aber es kostete mich schier übermenschliche Kraft.
Eines Tages wollte ich mein Wohnzimmer saugen und brauchte dafür einen ganzen Vormittag. Am Mittag war ich dennoch nicht fertig. Ich wollte mich anziehen und konnte mich 1 ½ Stunden nicht entscheiden was zu wählen. Ich konnte nicht mehr essen. Es erschien mir zu anstrengend und sinnlos und so nahm innerhalb von 3 Wochen 4 kg ab. Ich fiel abends in einen bleiernen Schlaf nur um ein paar Stunden später wieder zu erwachen, manchmal von einem der Kinder geweckt, meist nur weil ich dachte ein Kind hätte sich gerührt. Dann schlief ich stundenlang nicht mehr ein. Mein Kopf arbeitete. Aber es entstand dabei nichts. Es waren immer die gleichen Gedanken die sich da drehten. Irgendwann konnte man es nicht mehr als Gedanken bezeichnen. Es wurde zu einer Gewissheit. Der Gewissheit, dass meinen Kindern etwas passieren würde. Ich kam zu der Annahme, dass mein Leben bedeutete, dass ich leiden solle. Dinge aus meiner Kindheit spielten darin eine Rolle, dass mein Mann mich verließ und nun war ich überzeugt, dass als nächstes einem der Kinder oder beiden etwas passieren würde.
Ich fühle mich so hilflos. Hatte ich als Jugendlicher manchmal darüber nachgedacht aus dem Leben zu scheiden, wenn ich es nicht mehr ertragen würde, entschied ich nun für mich, dass dieser Weg wegen der Kinder nicht in Frage käme. Nachdem ihr Vater aus ihrem Leben Knall auf Fall verschwunden war wollte ich ihnen das nicht auch noch antun.
Ich bin doch vom Fach
Manchmal funktionierte mein Kopf noch. Ich war beruflich vom Fach, als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. So musste sich eine Depression anfühlen, die ich schon so oft bei anderen diagnostiziert hatte. Bei Kindern sah sie dennoch oft anders aus. Sie verhielten sich nach außen oft sehr wütend und das war meist der Grund warum ihre Eltern sie vorstellten. Aber diese Gefühlsleere beschrieben die älteren Kinder oft auch.
Nun stand ich da. Ich wusste was ich hatte und konnte mir nicht selber helfen. Meine verhaltenstherapeutischen Ansätze versagten. Ich hatte absolut keine Kraft mich zu aktivieren. Einen Spaziergang machen? Wie sollte das gehen, ich brauchte den ganzen Vormittag dafür mich davon zu erholen, dass ich die Kinder mehr schlecht als recht in den Kindergarten gebracht hatte. Ich ging zu meiner Hausärztin und ließ mich krankschreiben. Ich hoffe, dass mir zwei Wochen lohnarbeitsfrei helfen würden wieder auf die Beine zu kommen. Das Gegenteil war der Fall, ich bekam noch mehr Ängste und hatte mehr Zeit mir Gedanken über mein Schicksal und das der Kinder zu machen. Ich ging zu einem befreundeten Psychiater. Mittlerweile kam noch eine große soziale Unsicherheit dazu. Ich saß im Wartezimmer und schämte mich vor den anderen Menschen. Ich war innerlich und äußerlich total unruhig. Ich konnte nicht stillsitzen. Ständig musste ich aufstehen und mich bewegen. Ich dachte alle würden mich beobachten. Dann stellte der Arzt die Diagnose: Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen und verschrieb Medikamente. Er besprach mit mir all die Dinge, die ich eigentlich wusste, aber es war so hilfreich es von einem anderen Menschen zu hören: „Du bist schwer krank, Du kannst so nicht arbeiten. Eigentlich kannst Du Deine Kinder so nicht versorgen. Normalerweise würde ich Dich ins Krankenhaus einweisen. Du musst jetzt für Deine Kinder da sein indem Du eine andere Lösung findest als „physisch für sie da zu sein“. Usw. Ich lasse Dich jetzt mit der Medikation nach Hause gehen, aber wenn es schlimmer oder nicht besser wird musst Du ins Krankenhaus. Du kannst mich jederzeit auf dem Handy erreichen.“
Dann kam ein Wochenende an dem sich nicht viel änderte und ein Montag an dem ich beschloss, dass es so nicht weiterging. Ich rief den Freund an. Er vermittelte mir eine Klinikaufnahme am nächsten Tag. Ich sprach mit meinen Eltern, das war eigentlich der schwerste Schritt – Sie um Hilfe zu bitten. Ich wusste, dass der Vater meiner Kinder sich nicht mehr einbringen würde als unter normalen Umständen auch.
Stationäre Behandlung
Und dann ging alles seinen Weg: Ich ging in ein psychiatrisches Krankenhaus auf eine Akutstation. Meine Eltern und eine Haushaltshilfe kümmerten sich um meine Kinder und den Alltag. Ich sah die Kinder regelmäßig. Ab dem zweiten Wochenende war ich tagsüber Samstag und Sonntag beurlaubt. Unter der Woche besuchte mich meine Familie 1-2 mal. Ich bekam Medikamente und schlief so viel wie seit meiner Kindheit nicht mehr. Ich bekam Hilfe und das Gefühl endlich gestützt zu werden. Mir wurde gesagt: Es ist ok, wenn sie gar nichts machen und nur schlafen. Vielleicht möchten sie nachher mal versuchen mit spazieren zu gehen. Und ich traf Menschen, denen es genauso ging wie mir. Die mich nicht dafür verurteilten, dass mir alles so schwer fiel. Und ganz langsam wurde es wieder besser. Ich merkte, dass ich anfing meine Kinder zu vermissen (das erste „richtige“ Gefühl nach so vielen Wochen) und ich konnte wieder lesen und mich auf mehr als drei Sätze konzentrieren. Ich fing wieder an zu lesen und mich über Bücher so etwas wie zu freuen. Es wurde draußen Frühling und auch in mir kamen die Gefühle wie kleine Knospen wieder.
Insgesamt blieb ich 7 Wochen in der Klinik. Danach ging ich noch 6 Wochen in eine Tagesklinik und fing danach wieder an stundenweise zu arbeiten und stockte diese nach und nach innerhalb von 2 Monaten auf meine 20 Stunden pro Woche auf.
Ich war lebensgefährlich krank
Und nun – 2 Jahre – später: Ich bin wieder gesund – zu 95%. Ich kann meine Kinder versorgen und gehe arbeiten. Ich habe vieles verändert. Neuerdings habe ich dem Vater der Kinder in einem harten Kampf abgerungen, dass er die Kinder verlässlich alle 14 Tage über das Wochenende nimmt. Die Kinder übernachten immer mal wieder bei ihren Großeltern, damit ich auch einfach so mal ausschlafen kann. Ich habe keine Existenzängste mehr. Ich weiß, dass ich Vieles nicht beeinflussen kann. Ich habe gesehen, wie man ohne Vorwarnung plötzlich schwer (der Psychiater sagte „lebensgefährlich krank“) werden und auch wieder genesen kann. Warum soll ich mir z.B. Sorgen darüber machen wie lange und wie hohen Unterhalt mein Ex zahlt? Alles war zählt ist die Gesundheit von mir und meiner Familie. Das Wiederholungsrisiko bei einer schweren Depression ist enorm hoch.
Holt Euch Hilfe
100% genesen möchte ich gar nicht. Das würde für mich bedeuten mir wieder zu viel zuzumuten. Und das war der Auslöser für all das. Die Grundveranlagung dafür war und ist sicher vorhanden und somit besteht das Risiko für eine Wiederholung immer. Ach ja, ich nehme noch eine niedrige Dosis von einem Antidepressivum ein und mache eine ambulante Psychotherapie. Und ich habe mich verändert. Ich bin jetzt bereit zu akzeptieren, dass ich Grenzen in meiner Leistungsfähigkeit habe und ich bin eine bessere Therapeutin geworden, weil ich erst jetzt wirklich verstehe was es heißt nicht anders zu können. Und ich durfte sehen was es bedeutet eine wunderbare Familie und Freundschaften zu haben die tragen und halten in so einer Zeit. Meinen Kindern bin ich hoffentlich ein Modell dafür, dass man scheitern und wieder aufstehen kann und dass es gut ist sich Hilfe zu holen. Das ist es auch was ich den Lesern mitgeben möchte: Hilfe holen und annehmen ist das Wichtigste.
Und: Auch Mütter sind nur Menschen.
Ein wunderbarer Artikel!!
Das finde ich auch.
Dieser Text macht mir Mut. Obwohl ich auch Angst habe. Denn ich fühle mich momentan so wie die Autorin. Eine Starre, die nicht vergeht. Ich kann nicht mehr aufräumen, ich kann nicht mehr essen. Es ist, als hätte jemand meine Gedanken niedergeschrieben. Das zu lesen, ist wie in einen Spiegel zu sehen.
Was bleibt, ist die Gewissheit, dass ich krank bin. Das macht mir Angst.
Liebe Lilia,
ich freue mich zu lesen, dass der Text Dir Mut macht. Oder anders: Das Du Dich darin wiederfindest.
Ich glaube, es ist immer gut zu wissen, dass man nicht alleine ist.
Die Frage ist, wie geht es für Dich weiter? Ich hoffe, dass Du eine Antwort darauf findest.
Die Angst, die Du verspürst, kommt mir sehr bekannt vor. Und es kostet viel Kraft, sich dem zu stellen. Sich der Depression „an sich“ zu stellen und daran zu arbeiten. Also in den Spiegel zu sehen, immer wieder.
Aber ich kann Dir auch sagen: Es ist alle Mühe und Tränen wert.
Ich drücke Dir die Daumen. Für alles.
Alles LIebe
Tante Emma