Alfred

Dies hier ist ein Betrag, den ich im Mai 2010 in meinem alten Blog gepostet habe. Heute stolperte ich wieder darüber, auf der Suche nach einem anderen Post. Ich war sofort wieder in der Situation von damals und deshalb habe ich mich entschlossen, hier den Post zu konservieren. Für mich.

Ich sah den alten Mann an seinem Kofferaum stehen, neben sich den Einkaufswagen. Ich dachte mir erst nichts dabei und war schon fast an ihm vorbei, als mir auffiel, dass er sich nicht bewegte.

“Ist Ihnen nicht gut?” “Doch, geht gleich wieder.” “Sind Sie alleine hier?” “Ja.” “Brauchen Sie Hilfe?” “Nein. Ja, doch.” “Darf ich Ihnen helfen, Ihre Sachen in den Kofferraum zu räumen?” “Ja, das wäre sehr nett.” Er kramte einen siffigen Jutebeutel aus dem Kofferraum, der halb unter einem der beiden vollen Wasserkästen klemmte. Ich entdeckte  noch einen Karton mit zwei Broten und ca. 6 Schachteln Zigaretten. “Hier, der Beutel.” “Wollen Sie den vielleicht halten, dann können Sie sehen, ob ich das auch alles richtig machen!” “Ach, ihr Frauen könnt das!” Unser erster Lacher. Ich habe seine paar Teile in den Beutel geräumt, das Paket Taschentücher daneben gelegt und wollte ihn grad fragen, ob ich ihm den Wagen zurückbringen darf. Da fragte er mich: “Rauchen Sie?” “Ja, gelegentlich”* Er hält mir mit seinen gelben Fingern mit gelben Nägeln eine Schachtel irgendwas unter die Nase und gibt mir mit zittrigen Fingern Feuer. “Was war denn gerade los mit Ihnen? Kann ich Sie überhaupt alleine lassen?” “Ach, wissen Sie, das sind manchmal so Kriegserinnerungen. Ich war heute noch beim Arzt, der sagt, es sei alles in Ordnung. Ich werde im Herbst 81 und wenn ich mit 90 noch so fit bin, dann bin ich zufrieden.” “Was sind das für Erinnerungen, wenn ich Sie fragen darf?” “Die sind nicht gut, junge Frau. Ich kann mich dann auf jeden Fall nicht bewegen.” “Wer hilft Ihnen denn gleich beim Ausladen?Niemand. Meine Frau ist bettlägerig und meine Töchter drücken sich.” Der erste Kloß in meinem Hals, na super. “Sind Sie verheiratet?” “Nein, bislang wollte keiner. Ich lebe alleine. Das Angebot ist auch nicht berauschend.” Unser zweiter Lacher. Wir rauchen ein wenig weiter und ich sehe, dass er mich aus dem Augenwinkel mustert. Ich grinse ihn an und sage: “Was ist?” “Ach nichts.” “Los, raus mit der Sprache.” “Wissen Sie, wenn ich nicht verheiratet wäre, Sie würden mir gefallen!” Ich grinse und schlucke zugleich und sage: “Na, endlich mal einer, der mir ein Kompliment macht.” Ich habe fertig geraucht und sage: “Darf ich Ihren Wagen wegbringen? Ich brenne auch nicht mit dem Euro durch, ich lass Ihnen mein Körbchen als Pfand.” “Ach, da ist eh nur ein Chip drin.” Ich nehme mein Portemonaie aus dem Korb und er sagt: “Ich klau Ihnen nichts!” “Nein, Sie nicht, aber vielleicht jemand, der ein bisschen schneller laufen kann, als Sie.” Wir lachen wieder.
Ich bringe den Wagen weg und gehe zurück zu ihm. Er steht neben meinem mädchenrosa Korb, in Klamotten, die ihm viel zu groß sind. Er könnte eine Rasur vertragen und stinkt entsetzlich nach Pipi. Ich drücke ihm den Chip in die Hand, er fragt mich: “Wie war der Name?” “Tante Emma. Und wie heißen Sie?” “Alfred!” “Alfred, danke für die Zigarette. Kommen Sie gut nach Hause!” “Danke, ich habs nicht weit, nur einen Kilometer. Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder, Tante Emma!” “Das hoffe ich auch, Alfred.”

Ich kann durch den Tränenschleier den Weg zu meinem Auto kaum sehen.

Ich traf ihn leider nie wieder.

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